Liane der Wanderer

Durch den dichten Wald kam Liane der Wanderer, und tänzelnden Schritts überquerte er die Lichtungen. Er pfiff und sang, er sprang und hüpfte und war in bester Stimmung. Am einen Finger ließ er einen bronzenen Armreif hin und her baumeln – ein Schmuckstück, das kantige Zeichen aufwies, Symbole, die im Laufe der Zeit schwarz geworden waren.

Allein durch Zufall hatte er den Reif gefunden, um die Wurzel einer alten Eibe geschlungen. Er grub sie aus dem Boden und betrachtete die Zeichen in der Innenfläche des metallenen Rings – tiefe Hieroglyphen, vielleicht Runen von besonderer Bedeutung… Und er beschloß, den Reif einem Magier zu zeigen und ihn auf Zauberei untersuchen zu lassen.

Bei diesem Gedanken verzog Liane das Gesicht, denn es gab da einige Schwierigkeiten. Manchmal gewann er den Eindruck, als hätten sich alle lebenden Geschöpfe dazuverschworen, Ärger in ihm zu erwecken. Zum Beispiel der Gewürzhändler an diesem Morgen – was er doch für einen Aufruhr gemacht hatte! Wie unachtsam von ihm, Blut auf die prächtigen Stiefel Lianes tropfen zu lassen! Andererseits, so dachte er, wurden Unannehmlichkeiten in der Regel durch freudige Überraschungen ausgeglichen: Beim Ausheben des Grabes fand er den bronzenen Reif.

Und als er sich daran erinnerte, juchzte Liane wieder, und er lachte glücklich. Er sprang, drehte sich um die eigene Achse, sang und tanzte. Hinter ihm flatterte der grüne Umhang wie eine Fahne, und die lange rote Feder an seinem Hut neigte sich auf und ab. Dennoch – Liane schritt langsamer aus – war er der Lösung des magischen Rätsels noch nicht näher gekommen.

Vorausgesetzt natürlich, bei dem Reif handelte es sich

tatsächlich um einen thaumaturgischen Gegenstand.

Ein Experiment – warum denn nicht?

Er blieb an einer Stelle stehen, an der das rubinrote Sonnenlicht, nicht von dichtem Blattwerk behindert, bis zum Boden herabreichte, und in diesem hellen Schein betrachtete er den Reif eingehend, strich mit den Fingerkuppen behutsam über die Hieroglyphen. Er hielt ihn hoch und blickte hindurch. Ein Schimmern und Flackern? Noch einmal sah er sich das metallene Schmuckstück genau an. Vielleicht stellte es eine Art Krone dar. Er nahm die Mütze ab und setzte den Reif so auf, daß die eine Seite seine Stirn berührte. Dann rollte er mit seinen großen, golden funkelnden Augen und reckte sich stolz… Seltsam. Der Reif glitt ihm vom Kopf, stieß ans Ohr und streifte das eine Auge. Finsternis. Erschrocken griff Liane danach und ließ ihn sinken. Ein bronzener Ring, der eine halbe Handbreite durchmaß… Wirklich sonderbar.

Er versuchte es noch einmal. Der Reif glitt ihm über den Kopf und fiel ihm auf die Schulter. Und plötzlich reichte der Blick Lianes in die Dunkelheit einer ganz anderen Welt. Als er nach unten blickte, stellte er fest, daß der Rand der Finsternis das Licht auf der Lichtung verdrängte, während er das Schmuckstück sinken ließ.

Ganz langsam… Die Schwärze kroch in Richtung seiner Fußknöchel, und Panik entstand in Liane. Hastig hob er den Reif hoch über den Kopf – und blinzelte im hellen Schein der Sonne.

Kurz darauf sah er einen blau-und grünweißen Schemen im Blattwerk. Es war ein Twk-Mann, der auf einer Libelle ritt, und farbiges Licht reflektierte von den Flügeln des Insekts.

»Hier!« rief Liane laut. »Hier, mein Herr!«

Der Twk-Mann landete mit seiner Libelle auf einem Ast. »Nun, Liane, was hast du auf dem Herzen?«

»Sieh genau hin und präg dir ein, was du siehst!« Liane hielt sich den Reif über den Kopf, ließ ihn zu Boden fallen, griff danach und hob ihn wieder hoch. Anschließend richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Twk-Mann, der an einem Blatt nagte. »Was hast du gesehen?«

»Ich sah, wie Liane aus der Welt der Sterblichen verschwand

– nur die roten runden Spitzen seiner Stiefel blieben von ihm zurück. Der Rest war nichts weiter als leere Luft.« »Ha!« entfuhr es Liane. »Denk nur! Hast du so etwas schon einmal erlebt?« Doch der Twk-Mann fragte nur im Plauderton: »Führst du Salz bei dir? Mit Salz schmecken die Blätter besser.« Liane wurde wieder ernst und musterte den Twk-Mann

wachsam.

»Welche Neuigkeiten bringst du?«

»Drei Teufel haben Florejin den Traumbauer getötet und alle Blasen platzen lassen. Noch eine ganze Zeit lang schwebten gleißende Splitter über dem Haus.«

»Ein Gramm.«

»Lord Kandive der Goldene hat ein Schiff aus zugeschnittenem Moholz gebaut. Es ist zehn Längen hoch, schwimmt auf dem Scaumstrom und soll an der Regatta teilnehmen. Viele Schätze befinden sich an Bord.«

»Zwei Gramm.«

»Eine goldene Hexe namens Lith hat sich auf Thamberaue niedergelassen. Sie ist jung und schön.«

»Drei Gramm.«

»Das genügt«, sagte der Twk-Mann und beugte sich vor, als

Liane das Salz mit einer kleinen Waage abwog. Er verstaute es in den beiden winzigen Beuteln, die an der rechten und linken Seite des gerippten Brustsegments hingen, und dann ließ er die Libelle aufsteigen und verschwand mit ihr im Zwielicht des Waldes.

Erneut probierte Liane den bronzenen Reif aus, und diesmal strich er ihn ganz über die Füße, trat aus ihm heraus und befand sich in völliger Dunkelheit. Was für ein herrliches Refugium! Ein Schlupfwinkel, dessen Zugang in ihm selbst versteckt werden konnte! Und dann noch einmal hinein in den viel größeren Ring, ihn ganz hochziehen, auch die Arme und den Kopf hindurchstrecken… Daraufhin befand er sich wieder im Wald, und der große Ring wurde zu einem kleinen Reif.

Ho! Und fort zur Thamberaue, um mit der schönen goldenen Hexe zu sprechen.

Ihre Hütte bestand nur aus geflochtenem Bast – eine niedrige Halbkugel mit zwei runden Fenstern und einer kleinen Tür. Lith stand barfüßig am Teich, schritt langsam durchs Schilf und suchte offenbar nach Fröschen. Sie hatte ihr weißes Gewand bis zu den Oberschenkeln gehoben und blieb ganz still stehen; nur im Bereich ihrer schmalen Knie kräuselte sich das Wasser.

Sie war noch schöner, als es Liane erwartet hatte – so als sei eine der prächtigen Blasen Florejins über dem Teich geplatzt. Ihre Haut schimmerte in einem satten cremefarbenen Ton, und das Haar schien aus goldenen Locken zu bestehen. Ihre Augen ähnelten denen Lianes, zwei gleißenden Juwelen, doch im Falle der Hexe waren sie etwas größer und ähnelten mehr einer Ellipse.

Liane trat vor und näherte sich dem Ufer. Überrascht sah Lith auf, und ihre vollen Lippen zitterten ein wenig.

»So vernimm meine Worte, goldene Hexe: Liane ist gekommen, um dich in Thamberaue willkommen zu heißen. Er bietet dir nicht nur Freundschaft an, sondern auch seine Liebe…«

Lith bückte sich, ergriff eine Handvoll Schlamm und warf ihm die schmutzige Masse ins Gesicht.

Liane fluchte hingebungsvoll und wischte sich den Schlick aus den Augen, doch die Tür der Hütte hatte sich bereits geschlossen.

Liane schritt darauf zu und hieb einige Male mit der Faust aufs Holz.

»Mach auf und zeige dein Hexengesicht – oder ich brenne die Hütte nieder!«

Die Tür öffnete sich, und die junge Frau sah ihn lächelnd an. »Was nun?«

Liane trat ein und versuchte, die Hexe zu ergreifen. Zwanzig Klingen zuckten ihm entgegen, und zwanzig Spitzen verharrten unmittelbar vor seiner Brust. Der Wanderer verharrte reglos, hob die Augenbrauen und sah Lith groß an.

»Fort mit dir, Stahl!« rief die junge Frau – und die Klingen verschwanden. »Ich hätte dich ganz einfach töten können, wäre das meine Absicht gewesen«, erklärte die Hexe.

Liane runzelte die Stirn, rieb sich das Kinn und wirkte nachdenklich. »Weißt du«, sagte er nach einer Weile, »das war wirklich dumm von dir. Liane wird von denen gefürchtet, die Angst vor der Angst haben, und geliebt von jenen, die die Liebe lieben. Und du«, – sein Blick glitt über ihre goldene Gestalt –, »bist reif wie eine süße Frucht. Ohne Zweifel hast du Leidenschaften und sehnst dich danach, Liebe zu empfangen. Du gefällst Liane, und er wird dir die Zärtlichkeit schenken, nach der du verlangst.«

»Nein, nein«, erwiderte Lith und lächelte zaghaft. »Du hast es zu eilig.«

Liane musterte sie überrascht. »Ach, ja?«

»Ich bin Lith«, sagte die junge Hexe, »und es ergeht mir so, wie du eben meintest. Ich bin reif, ja, ich koche und brodle innerlich. Doch ich darf nur den Mann lieben, der mir zuvor gedient hat. Er muß tapfer und kühn sein, klug und geschickt.«

»Dann bin ich genau der Richtige für dich«, stellte Liane fest. Er kaute auf der Unterlippe. »Allerdings halte ich nichts von Zeitverschwendung, und deshalb…« Er trat einen Schritt vor. »Komm, laß uns…«

Lith wich zurück. »Nein, nein. Hast du mich denn nicht verstanden? Du kannst mich erst dann lieben, wenn du zuvor in meinen Diensten gewesen bist.«

»Was für ein Unfug!« ereiferte sich Liane. »Sieh mich an! Betrachte meine Anmut, meinen prächtigen Körper, die feinen Züge meines Gesichts, den Glanz in meinen Augen, die so golden sind wie deine. Ich bin die Verkörperung von Eleganz und Kraft… Eigentlich solltest du mir dienen. Ja, so wollen wir es halten.« Er ließ sich auf einigen Kissen nieder. »Bring mir Wein, Frau!«

Lith schüttelte den Kopf. »In diesem kleinen Heim kann ich zu nichts gezwungen werden. Außerhalb von Thamberaue mag das anders sein – doch hier, bei meinen blauen und roten Quasten, den zwanzig Klingen, die meinem Gebot gehorchen… Nein, hier kannst du mir nichts befehlen. Entscheide dich. Entweder du stehst auf, gehst fort und kommst nie wieder, oder du hilfst mir bei einer kleinen Aufgabe, woraufhin ich mich dir mit all meiner Leidenschaft hingeben werde.«

Liane blieb stocksteif sitzen. Eine seltsame Frau, diese goldene Hexe. Andererseits jedoch war sie durchaus einige Anstrengungen wert, und anschließend würde sie für ihre Unverschämtheit büßen.

»Nun gut«, sagte er schlicht. »Ich werde dir dienen. Was wünschst du? Ich kann dich mit Perlen ersticken, dich mit Diamanten blenden. Ich besitze zwei Smaragde, so groß wie deine Faust, und sie sind wie grüne Ozeane, die den Blick des Betrachters einfangen, so daß er für immer und ewig an schillernden Prismen entlangstreicht…«

»Nein, nein, nach Juwelen steht mir nicht der Sinn…«

»Dann geht es vielleicht um Feinde? Ach, ganz einfach. Liane tötet zwei Männer für dich. Zwei Schritte vorwärts, dann zustoßen – so!« Er sprang. »Und die Seelen steigen empor wie Gasblasen in einem Humpen Bier.«

»Nein. Ich möchte nicht, daß jemand ums Leben kommt.«

Liane ließ sich wieder auf die Kissen sinken und runzelte die Stirn. »Was willst du dann?«

Lith trat an die rückwärtige Wand und zog ein Tuch beiseite. Es enthüllte einen goldenen Gobelin. Die Darstellung darauf zeigte ein Tal, das von zwei hohen Bergen begrenzt wurde – eine breite Senke, durch die die ruhigen Wasser eines Stromes flossen, vorbei an einem stillen Dorf und in einen kleinen Wald. Golden schimmerte der Fluß, golden waren die Berge und auch die Bäume. Und die einzelnen Goldtöne unterschieden sich auf so subtile Weise, daß der Eindruck einer geradezu bunten Landschaft entstand. Doch irgend jemand hatte den Gobelin in zwei Teile geschnitten.

Liane war fasziniert. »Prächtig, wundervoll…«

»Es ist ein Bild des Magischen Tals von Ariventa«, erklärte Lith. »Die andere Hälfte wurde mir gestohlen, und dein Dienst soll darin bestehen, sie mir zurückzubringen.«

»Wo befindet sie sich?« fragte Liane. »Und wer ist der Schuft, der sie dir stahl?«

Daraufhin bedachte die Hexe Liane mit einem nachdenklichen Blick. »Hast du jemals von Chun gehört? Von Chun dem Unvermeidlichen?«

Liane überlegte. »Nein.«

»Er war es, der die andere Hälfte des Gobelins stahl, und er hing sie in einem marmornen Saal auf, der zu den Ruinen nördlich von Kaiin gehört.«

»Ha!« brummte Liane.

»Du findest den Saal am Orte des Raunens. Er wird gekennzeichnet von einer schrägen Säule, die ein schwarzes Medaillon aufweist. Es zeigt sowohl einen Phönix als auch eine doppelköpfige Eidechse.«

»Ich mache mich auf den Weg«, sagte Liane. »Einen Tag nach Kaiin, einen zweiten Tag, um die fehlende Gobelinhälfte zu stehlen, und einen dritten für die Rückkehr. Drei Tage insgesamt.«

Lith begleitete ihn zur Tür. »Sei auf der Hut vor Chun dem Unvermeidlichen!« flüsterte sie.

Fröhlich pfeifend wanderte Liane los, und die rote Feder an seinem Hut tanzte auf und nieder. Lith sah ihm nach, kehrte dann in die Hütte zurück und näherte sich langsam dem Wandbehang. »Goldenes Ariventa«, hauchte sie. »Die Sehnsucht nach dir erfüllt mein Herz mit Kummer…«

Beim Derna handelt es sich um einen kleineren Strom als den Scaum, und er fließt weiter im Süden. Dort, wo sich die Fluten des Scaum durch ein breites Tal ergießen, in dem purpurne Collinsonien blühen und sich auf den Anhöhen die weißgrauen und pockennarbigen Buckel alter Schlösser und Burgen erheben, hat der Derna eine tiefe Schlucht in den Fels gefressen. Auf den Klippen rechts und links davon wachsen lichte Gehölze.

Vor langer Zeit führte eine alte und mit Steinen gepflasterte Straße am Ufer des Derna entlang, doch inzwischen war sie teilweise den Stromschnellen zum Opfer gefallen. Auf seinem Weg nach Kaiin war Liane aus diesem Grund mehrmals dazu gezwungen, die Straße zu verlassen und durch das Dickicht aus Dornen und Lossträuchern zu klettern.

Die blutrote Sonne kroch so langsam über den Himmel wie ein alter Mann, der seinem Totenbett entgegenwankt. Sie hing dicht über dem Horizont, als Liane Porphironklippe erreichte und von dort aus über das weiße Kaiin und die blau glänzende Bucht von Sanreale hinwegblickte.

Direkt unten sah er den Marktplatz, ein buntes Durcheinander aus Ständen, Buden und kleinen Läden, in denen Obst, fades Fleisch, Muscheln aus dem Uferschlamm und bauchige Kannen mit Wein angeboten wurden. Die stillen und ruhigen Bewohner Kaiins schritten umher, machten ihre Einkäufe und kehrten mit ihren gefüllten Körben anschließend in die steinernen Häuser zurück.

Auf der anderen Seite des Marktplatzes erhoben sich einige teilweise geborstene Säulen, die aussahen wie die gesplitterten Zähne eines Titanen – einst hatten sie sechzig Meter in die Höhe geragt und zu der Arena gehört, die auf Anweisung des Verrückten Königs Shin errichtet worden war. Jenseits davon, inmitten einer Ansammlung von Lorbeerbäumen, konnte man die glänzende Kuppel des Palastes sehen. Von dort aus herrschte Kandive der Goldene sowohl über Kaiin als auch die Bereiche Ascolais, die man von Prophironklippe aus überblicken konnte.

An jenem Ort waren die Wasser des Derna nicht mehr so klar wie Kristall. Sie flossen durch ein Netzwerk aus Kanälen und unterirdischen Rohren, und vorbei an den verfallenden Molen sickerten sie schließlich in die Bucht von Sanreale.